K.J. Bade u.a. (Hrsg.): Enzyklopädie Migration

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Titel
Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart


Herausgeber
Bade, Klaus J.; Pieter C. Emmer, Leo Lucassen und Jochen Oltmer
Erschienen
Zürich 2007: NZZ Libro
Anzahl Seiten
1156 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Man kann die Geschichte Europas nicht denken, ohne ihre Migrationsgeschichte mitzudenken – auch die aussereuropäische Einwanderungsgeschichte, in höherem Mass aber die binneneuropäische Wanderungsgeschichte, die wegen der kleinräumigen Grenzstrukturierung sogleich als «national» wahrgenommen wird. Eine eben erschienene Enzyklopädie kann dabei helfen. Sie erhielt ihren Anstoss aus den Arbeiten von Klaus J. Bade (Osnabrück), dem besten Kenner der Materie im deutschsprachigen Raum. Dieser hat für die bekannte blaue Reihe «Europa bauen» eine erste, im Jahr 2000 erschienene Gesamtsicht der europäischen Migrationsbewegungen seit dem 18. Jahrhundert verfasst. Im jetzt vorliegenden und auf einer soliden niederländisch-deutschen Kooperation beruhenden Werk sind über 200 Mitautor/innen aus der ganzen, auch aussereuropäischen Welt beteiligt. Der über 1000 Seiten umfassende Textkorpus ist naheliegenderweise zunächst in 17 Länderbeiträge eingeteilt und beschreibt die allgemeinen Migrationsgeschichten von Irland bis Ukraine und Russland. Dieser Teil ermöglicht – theoretisch – eine ländervergleichende Betrachtung. Die eigentliche innovative Leistung besteht aber in der enzyklopädischen Präsentation von über 200 alphabetisch angeordneten Porträts von Migrationsgruppen: von den «Ägyptischen ‘Sans-papiers’ in Paris seit den 1980er Jahren» über die «Irischen Industriearbeiter in England, Schottland und Wales seit dem 19. Jahrhundert» bis zu den «Zyprioten in Grossbritannien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs».

Bade räumt ein, dass Migration und Integration zur Zeit ein «zentrales Sorgenthema» seien, er macht aber darauf aufmerksam, dass es dabei um Vorgänge geht, die «seit jeher» zentrale Elemente der europäischen Kulturgeschichte gewesen seien. Dies sei, nicht zuletzt wegen der zumeist problemlosen Integration, im kollektiven Bewusstsein kaum präsent. Mit der «Beleuchtung» dieser Vorgänge will die Enzyklopädie dies etwas bewusster machen. Entdramatisierend ist auch die sehr zutreffende Feststellung: «Migration gehört zur Conditio humana wie Geburt, Vermehrung, Krankheit und Tod; denn der Homo sapiens hat sich als Homo migrans über die Welt ausgebreitet.»

Obwohl aus historischer Perspektive auch die europäische Auswanderung ihre angemessene Beachtung erfährt (zwischen 1820 und 1930 haben immerhin 55 Mio. Menschen Europa verlassen), steht – eurozentrisch auf die heutigen Verhältnisse bezogen – die Ankunfts- und Integrationsproblematik stark im Vordergrund. Die Herausgeber distanzieren sich sowohl von simplen Assimilationserwartungen als auch von übertriebenen Vorstellungen eines dauerhaften Überlebens ethnischer Eigenart. Sie weisen jedoch zu Recht darauf hin, dass die heutigen Kommunikationsmittel und leichten Reisemöglichkeiten die Beziehungen mit dem Herkunftsland
stärker am Leben erhalten.

Die Migrationsgruppen werden zu Recht nicht als homogene Einheiten gesehen, der sozialen Stratifikation wird Rechnung getragen wie auch der Erfahrungstatsache, dass es Kleinkerne mit geringerer Anpassung an das neue Umfeld gibt wie auch die Grossgruppen stärkere Auflösungserscheinungen an ihren Rändern zeigen. Zu der im Hintergrund bleibenden Problematik der Migrationsmotive kann das Werk keine zusätzlichen Einsichten vermitteln; die Grenzen zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration bleiben fliessend – müssen es wohl bleiben. Das Werk neigt dazu, «Wirtschaftsflüchtlinge» eher als freiwillige «Verbesserungsmigranten» einzustufen.

Naheliegenderweise besteht hier ein spezielles Interesse, was der von Marc Vuilleumier verfasste Länderartikel vermittelt. Es ist eine alles in allem gute, für ein derartiges Werk typische Gesamtschau: für die grössere Leserschaft ist es mehr, als ihr sonst zur Verfügung steht, für die nationale Leserschaft ist es dagegen zu wenig, auch wenn diese manches findet, was so nicht bewusst ist, etwa das Faktum, dass bereits zur Zeit der Helvetik (um 1790) rund 25 000 Schweizer in den USA lebten. Die Zahlen zum Ausländeranteil sind nur bis zum Jahr 2000 nachgeführt, die jüngste Angabe weist eine erhebliche Differenz zu den offiziellen Zahlen des Bundesamtes für Migration aus. Zudem erfährt man nicht, dass über die Hälfte der rund 20% «Ausländer» entweder im Lande geboren oder bereits über 15 Jahre wohnhaft sind. Hier offenbart sich ein durchgehendes Charakteristikum dieses Nachschlagewerks: Es gibt keine Quellen an und macht sich selbst zur Quelle, allerdings problematischer Art.

Erstaunlich, dass die Geschichte der militärischen Internierung erst mit dem Ersten Weltkrieg einsetzt und die für das Selbstbild der humanitären Schweiz zentrale Bourbaki-Internierung von 1871 unerwähnt bleibt. Dagegen kann man es als Beitrag zur Versachlichung würdigen, dass die Verantwortung für die Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges nicht an bestimmte in der Schweiz sehr geläufige Namen geknüpft wird. Die Flüchtlingszahlen werden, was einige ärgern wird, vom Bergier-Bericht übernommen. Kurz, aber kritisch wird die fortschreitende «Demontage» des Flüchtlingsstatus erwähnt, wie er 1951 in der UN-Konvention definiert worden ist. Nicht geglückt sind im Abschnitt zur italienischen Einwanderung nach 1945 die Paarungen der verwendeten Terminologie: Dem Rotationsprinzip wird das Integrationsprinzip gegenübergestellt, obwohl es besser als Niederlassungsprinzip bezeichnet und das Integrationsprinzip als Gegenstück zum Assimilationsprinzip verstanden würde.

Die auch für die Schweiz wichtigen Aussagen zum Flüchtlingsstrom aus Ungarn von 1956 finden sich in einem eigenen Abschnitt eben zu dieser Gruppe. Hier zeigt sich der Vorteil dieser Präsentationsweise, weil man sieht, dass diese Flüchtlinge über ein Dutzend so genannte «Zielgebiete» aufgesucht haben. Hier zeigt sich aber auch die Schwierigkeit, dem stark verbreiteten Phänomen der Etappenwanderung gerecht zu werden. So erweisen sich die Zahlen auch hier als problematisch: Für die Schweiz werden 7000 genannt. Etabliert hat sich die Zahl von 12 000 bis 14 000 direkt Aufgenommenen, geblieben sind in der Schweiz gemäss jüngster Fachmeinung
rund 10 000.

Die Literaturangeben des in diesem Fall niederländischen Autors konzentrieren sich nicht zufällig auf Literatur seines Landes, die Zürcher Publikationen von George Zabratzky (2006) oder Urban Stäheli (2005) sind – natürlich – nicht aufgeführt. Zudem dürfte Uriel Gasts Schlüsselwerk zur Fremdenpolizei (1997) nicht ungenannt bleiben, wenn weniger zentrale Publikationen aufgeführt werden. Von Patrick Kurys Arbeit über den Überfremdungsdiskurs kann man sagen, dass sie erst seit 2003 (!) in Zirkulation ist, und diejenige von Regula Argast über Staatsbürgerschaft (2007) noch gar nicht vorlag.

Fällt aus der Optik des Spezialisten eher auf, was man auch noch hätte sagen müssen, ist man als Nichtspezialist im weiten Feld der Migrationsgeschichte dankbar für das Grundwissen, das einem doch in reichem Mass und in guter Qualität zur Verfügung gestellt wird. So erfährt man im Beitrag zu den armenischen Flüchtlingen in Frankreich, dass sie seit 1945 einem wachsenden Assimilationsdruck ausgesetzt sind, dass sie von Behörden und Arbeitgebern gezwungen wurden, ihre Namen zu französisieren (was aus einem Asnawurjan einen Aznavour machte), dass ein Teil dieser Flüchtlinge 1946/47 in die Sowjetrepublik zurückkehrte, 1956 aber – enttäuscht – wiederum in ihr ehemaliges Emigrationsland zurückkehren durfte. Für die Verfasserin dieses Beitrags (Tessa Hofmann, FU Berlin) ist es übrigens keine Frage, dass 1915/17 an den Armeniern ein Genozid verübt wurde.

Der von Yasemin Karakasoglou (Universität Bremen) verfasst Beitrag über die türkische Arbeitswanderung «in West-, Mittel- und Nordeuropa» befasst sich in Wirklichkeit fast ausschliesslich mit den Verhältnissen in Deutschland. Geschildert werden die verschiedenen Phasen von der exprimentellen Initialphase in den 1950er Jahren, über die systematische Rekrutierung in den 1960er Jahren, den Familiennachzug und die Kettenwanderung, später der Heiratsmigration, den Anwerbestopp in den 1970er Jahren, die RückkehrfoÅNrderung in den 1980er Jahren bis zur Einführung des Visumszwangs in den 1990er Jahren. Eindrücklich, dass Deutschland im Jahr 2000 vom germanischen Bluts- und Abstammungsprinzip abrückte und gemäss dem ius solis türkischen Neugeborenen die Staatsbürgerschaft zur Verfügung stellte. Eingehend werden das reiche Vereinswesen und die türkische Nischenökonomie beschrieben, statt von Subkultur und Ghettos wird von ethnischer Enklavebildung gesprochen. Von innertürkischen Spannungen (z.B. rund um die Kurdenfrage) ist dagegen nicht die Rede. Die prekären Ausbildungs- und Arbeitsplatzverhältnisse werden nicht verschwiegen, es wird aber auch deutlich gesagt, dass diese nicht mit Integrationsunfähigkeit junger Türken, sondern mit Integrationsschwächen der verschiedenen Segmente des Bildungssystems zusammenhängen. Gegenstück zur gut vernetzten Selbstorganisation bildet die Tatsache, dass die Deutschen türkischer Herkunft, über das ganze Parteienspektrum verteilt, in Landesparlamenten, im Bundestag und im Europaparlament vertreten sind. – So könnten weitere Gruppenschicksale rekapituliert werden – eine Europageschichte eigener Art.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. von Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer, Leo Lucassen und Jochen Oltmer. Paderborn, Schöningh, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 2, 2008, 200 S. 248-251.